Anfang Februar 2002 erhielt ich eine eMail von
einem Professor von der Freien Universität in Brüssel,
in der dieser mir mitteilte, dass er an einer Zusammenstellung der
Hanf- und Jutespinnereien arbeite, die vor dem Ersten Weltkrieg in
Europa existierten. Er fragte in seiner Mail an, ob ich ihm
Informationen über die von August Gottlieb gegründete
Seilerwarenfabrik geben könne, die später Teil der
Vereinigten Jute-Spinnereien und –Webereien geworden sei. Da
erinnerte ich mich an Frau Aenne Eckhardt, die Chefsekretärin
bei Vehal gewesen war, dem Nachfolgebetrieb der soeben genannten
Firma. Frau Eckhardt hatte dort ihre Ausbildung erfahren, kannte
daher den Betrieb sicher bis in den letzten Winkel und würde
möglicherweise auch Informationen über August Gottlieb
liefern können. Meine Vermutung trog nicht und so erhielt ich
neben einer maschinengeschriebenen kleinen Firmengeschichte eine
von der Aktiengesellschaft August Gottlieb herausgegebene Schrift
über das Leben und Wirken des Fabrikanten und eine Schrift
von Wilhelm Neuhaus aus dem Jahre 1924, die er anlässlich der
Wiederkehr des 80. Geburtstages von August Gottlieb verfasst
hatte. Letztere erschien auch in „Mein Heimatland“,
Bd. 7, aus dem Jahre 1925. Das Interesse des belgischen Professors
und das mir übergebene Material waren für mich Grund
genug, mich nun selbst mit August Gottlieb zu beschäftigen.
Natürlich war mir der Name des Mannes bekannt, der die
Seilerei gegründet hatte, gehörte er doch zu den
Männern, die wie Adolph Wever, Adam Rechberg, Georg Braun,
Benno Schilde, Georg Börner und anderen dafür gesorgt
hatten, dass es in dem bis dahin beschaulichen Landstädtchen
Hersfeld in den Jahren zwischen 1870 und 1914 wieder zu einem
wirtschaftlichen Aufschwung gekommen war. Die handwerksmäßige
Herstellung von Waren hatte sich gegen die Konkurrenz der überall
entstehenden Fabriken nicht behaupten können. Auch mit dem
Hersfelder Gewerbe der Seilerei war es abwärts gegangen. Im
Jahre 1747 waren noch 13 Schnurmacher gezählt worden. Sie
waren 1875 auf 6 Werkstätten mit 21 Gehilfen
zusammengeschmolzen. Unter ihnen aber war jedoch schon der Mann,
der diesem Erwerbszweig für unsere Stadt eine neue Bedeutung
gab, August Gottlieb.
Wer nun war August Gottlieb? Viel ist es
nicht, was man noch über diesen Mann weiß. Wilhelm
Neuhaus schrieb bereits 1924 in seiner eben erwähnten Schrift
folgendes: „Und ich glaube, es war die höchste Zeit,
alles das zu sammeln, was noch über ihn bei den wenigen
Überlebenden, die ihn genauer gekannt haben, in der
Erinnerung bewahrt geblieben ist. Außer einer kleinen
Schrift, die von der Aktiengesellschaft August Gottlieb zu
Hersfeld während des Weltkrieges über das „Leben
und Wirken des Fabrikanten August Gottlieb“ herausgegeben
wurde und einigen wenigen, aber recht wertvollen Notizen, die mir
die Direktion der Blinden=Anstalt zu Friedberg freundlichst zur
Verfügung stellte, sind schriftliche Aufzeichnungen nicht
vorhanden. Der wiederholte Übergang des Geschäfts in
andere Hände ließ auch die Aufzeichnungen Gottliebs
(wenn überhaupt solche vorhanden waren) verschwinden.“
August Gottlieb wurde am 08. Dezember 1844 in Waldkappel als Sohn
eines Schlossermeisters geboren. „Der kleine August hatte
jedoch das Unglück, in seinem vierten Lebensjahr infolge
einer Scharlacherkrankung zu erblinden. Welche Eindrücke der
Knabe aus seiner frühesten Kindheit, in der er die Gabe des
Sehens noch besaß, in das Jünglings- und Mannesalter
hinübergenommen hat, lässt sich nicht beurteilen. Er
selbst hat sich in späteren Jahren nie darüber
geäußert.“ Als bei dem großen Brande in
Waldkappel am 25. und 26 Oktober 1854 zwei Drittel der Stadt mit
88 Wohnhäusern niederbrannten, wurde auch das Anwesen seines
Vaters, eine kleine Spinnerei, vernichtet. „Dieser zog nun
nach Bad Hersfeld und errichtete auf dem Trautvetterschen
Grundstück eine kleine Maschinenfabrik, die für die
Bedürfnisse der Hersfelder Industrie arbeitete und bald zur
Ausnutzung der Wasserkraft an die Geis verlegt wurde und die
Vorgängerin der Fabrik Sexauer geworden ist.“ Sie lag
zwischen den Straßen „An der Obergeis“, dem
„Steingraben“ und der „Dippelstraße“.
Als der Knabe in das schulpflichtige Alter gekommen war, übergaben
ihn seine Eltern einer Blindenanstalt in Soest in Westfalen, die
er sechs Jahre besuchte. Dort erhielt er neben der allgemeinen
Ausbildung Unterricht im Lesen und Schreiben der Blindenschrift.
Außerdem erlernte er mancherlei Handfertigkeiten. Nach
seiner Konfirmation kehrte August nach Hersfeld zurück, wo
man nicht recht wusste, was aus ihm werden sollte. Sein Vater
wollte ihn in Musik ausbilden lassen, worin er es dank seiner
natürlichen Begabung schon ziemlich weit gebracht hatte.
August wehrte sich aber, obwohl er die Musik sehr liebte. „.......
denn er wollte nicht, wie er sagte, durch die Ausübung der
Kunst als Blinder das Mitleid anderer erregen. Er zog es vor, ein
Handwerk zu erlernen, und setzte auch seinen Willen durch. Man
brachte ihn in die Blindenanstalt nach Friedberg in Hessen, wo er
Gelegenheit hatte, sich in den bereits früher erworbenen
Handfertigkeiten weiter auszubilden. In der Anstalt lernte man,
die verschiedensten Gegenstände aus Bindfaden und Stroh
anzufertigen; daneben wurde auch die Herstellung des Bindfadens
selbst betrieben. Diese letztere Arbeit zog den jungen Gottlieb
besonders an, ...........“. Wilhelm Neuhaus berichtet, er
sei am 1. Mai 1861 in die Anstalt eingetreten und habe nach dem
Zeugnis dieser Ausbildungsstätte in 1 1/2 Jahren das
Seilerhandwerk gründlich erlernt. „Gleich nach dem
Abschluß seiner Lehrzeit, also im Beginn des Jahres 1863,
ging Gottlieb daran, das Gelernte praktisch zu verwerten. Auf
einem Grundstück hinter seines Vaters Hause begann er die
Herstellung von Seilerwaren in primitivem Handbetrieb, ........
.Er spann mit der Hand den Hanf aus der Schürze zu Garn und
drehte mit Hilfe eines Seilerrades, das ein Junge bediente, die
Fäden zu einem Seil zusammen. Dabei ging ihm ein Freund, den
er in der Blindenanstalt zu Friedberg kennen gelernt hatte,
hilfreich zur Hand. Das war Adam Pfifferling, aus Schlitz gebürtig
und einige Jahre älter als Gottlieb. Er war von Geburt
einäugig, und auch dieses Auge hatte nur eine schwache
Sehkraft. Immerhin sah er noch etwas und war zudem ein sehr guter
Seilereiarbeiter.“ Bei den Produkten, welche die beiden
jungen Seiler herstellten, handelte es sich um Bindfäden in
allen Stärken, Zugstränge, Leitseile, Taue,
Wäscheleinen, geflochtene Traggurte und anderes mehr. Alles
fand wegen seiner guten Qualität schnellen Absatz. Es gab
sogar einen größeren Auftrag zur Lieferung von
Bindfäden an die Post. Da sich die Geschäfte so gut
entwickelten, erwies es sich als notwendig, die Produktion, die
bisher im Freien erfolgte, in einen gedeckten und geschlossenen
Raum zu verlegen. „Es muß ihm Mühe gemacht haben,
das notwendige Geld für diesen Bau herbeizuschaffen, denn er
wendet sich persönlich im Juni 1867 an den Vorsteher der
Blinden=Anstalt zu Friedberg mit der Bitte, beim Vorschuß=Verein
für ihn 500 Taler zu bürgen, eine Bitte, die dieser
abschlagen musste. Von seinen Eltern hatte Gottlieb auch keine
nennenswerte materielle Hilfe zu erwarten. Der Firma Gottlieb,
Schramm und Dill, deren einer Teilhaber sein Vater war, ging es
nicht zum besten ........... . Woher Gottlieb das Geld oder die
Bürgschaft schließlich erhalten hat, wissen wir nicht
......... .“ Jedenfalls konnte er im Jahre 1867 eine
überdeckte Seilerbahn von etwa 300 m Länge und 10 m
Breite errichten. Dieser Betrieb entstand am „Roten Graben“,
dem heutigen Seilerweg, zwischen der katholischen Kirche und der
Firma Grenzebach (ehemals Babcock-BSH GmbH und davor Schilde).
Gottlieb begann zunächst mit vier Arbeitern. Im Winter 1871
hatte er erst acht Arbeiter. Sein Hauptbestreben war nämlich,
seinen Betrieb mit zweckentsprechenden Maschinen auszustatten.
Dabei half ihm der Ingenieur Wilhelm Sexauer, der in der
väterlichen Maschinenfabrik angestellt war. Sexauer stellte
ihm auch die erste 4 – 6 PS starke Dampfmaschine auf. Als
dieser im Jahre 1877 die in Konkurs geratene Firma Gottlieb,
Schramm und Dill übernahm und nun mit seinem Betrieb genug zu
tun hatte, trat Benno Schilde an seine Stelle. Gottlieb und
Schilde entwickelten in gemeinsamer jahrzehntelanger Arbeit in
unzähligen Versuchen die Maschinen, mit denen Gottlieb die
Seilerei mechanisierte. Diese Maschinen liefen jahrzehntelang ohne
Fehl und Tadel. So schreibt Emma Mann, die Tochter Benno Schildes,
in den persönlichen Erinnerungen an ihren Vater im Jahre 1936
(anlässlich des 25 . Todestages am 23. Oktober 1911) : „
....es galt, immer neue Absatzgebiete zu erschließen. In der
Hauptsache aber waren es noch die Maschinen für August
Gottlieb, die das Werk beschäftigten. Noch heute sehe ich im
Geiste die beiden Männer, den blinden Gottlieb und meinen
Vater, Arm in Arm tagtäglich den damaligen „Flehmenweg“
auf- und abwandern, in eifrigem Gespräch. August Gottlieb
hatte von Jahr zu Jahr wachsendes Vertrauen zu seinem Freunde
Benno Schilde gewonnen und machte ihn immer mehr mit seinen Sorgen
und Ideen bekannt. Der fast alltägliche Aufenthalt in der
Seilerei von Gottlieb war für Vater eine Fundgrube für
alle möglichen neuen Ideen. Alles, was er sah, prüfte er
auf die Möglichkeit hin, durch technische Verbesserung eine
Verbilligung oder günstigere Wirtschaftlichkeit zu erzielen.“
Und weiter schreibt sie: „Auch die Anregung für seine
so bewährten Exhaustoren und Ventilatoren hatte er in der
Seilerei bekommen: denn dort war ihm ein gusseiserner Exhaustor
aufgefallen, der durch seine unförmigen Gussmassen ihn auf
den Gedanken brachte zu versuchen, diese schwere, kostspielige und
kraftfressende Bauart durch Konstruktion in Stahlblech und später
sogar in einfachem Eisenblech zu ersetzen.“ Wie wertvoll die
Zusammenarbeit mit August Gottlieb für Benno Schilde war,
zeigt eine weitere Bemerkung Emma Manns. So schreibt sie nämlich,
dass die Zwirnmaschine, die er für Gottlieb gebaut hatte, und
die Beschäftigung mit den Aufgaben einer Mechanisierung der
Gottliebschen Seilerei eine stetig zunehmende und sichere
Beschäftigung für das Maschinenbauunternehmen Schilde
gebracht habe.
Doch zurück zu August Gottlieb. Auch
Rückschläge blieben für ihn nicht aus.
Möglicherweise hatten die langwierigen Versuche und
kostspieligen Konstruktionen zuviel Geld verschlungen, denn 1877
geriet die Firma in ernste Zahlungsschwierigkeiten und machte
Konkurs. Im Inspektionsbericht der Blindenanstalt Friedberg heißt
es in einer Eintragung aus dem Jahre 1878: „Erfuhr heute den
2. Nov., dass August einen kolossalen Bankrott gemacht habe. Wer
hoch steigt, fällt tief. Hat jedenfalls seine Kräfte
überschätzt. Schade drum! - -“ Aber die
Friedberger hatten August Gottlieb doch nicht richtig gekannt,
denn ohne eine Bürgschaft zu verlangen, willigten Gottliebs
Gläubiger in einen Vergleich, der ihre Forderungen auf 25%
herabsetzte, die ohne Zinsen nach drei Jahren zurückgezahlt
werden sollten. Sie glaubten an die Rechtschaffenheit und den
Arbeitswillen ihres Schuldners. „Schon bald leistete er
Abzahlungen und 1884 konnte die Friedberger Blindenanstalt in
ihren Akten verbuchen, dass er alle seine Gläubiger zum
vollen Betrage ihrer Forderungen befriedigt habe.“ Durch den
Übergang zur mechanischen Seilerei erzielte er nämlich
bei geringeren Geschäftsunkosten eine höhere
Leistungsfähigkeit und bekam dadurch bald einen Vorsprung vor
seinen Konkurrenten, die weiter die Handseilerei betrieben. So
fanden neue Artikel Abnehmer, der Fabrikbetrieb wurde weiter
ausgebaut und weitere Arbeitskräfte wurden eingestellt. Man
benötigte jetzt auch immer mehr technische und kaufmännische
Hilfskräfte. Vor allem ging man auch zur Verarbeitung von
Jute über. Zum Verschnüren der Zuckerhüte gingen
jetzt aus Jute hergestellte Fäden an Zuckerraffinerien in
ganz Deutschland. „Bei allen notwendig werdenden
Vergrößerungen und Verbesserungen des Betriebs ging die
Initiative von Gottlieb selbst aus. Bei seinem Tode waren in der
Fabrik Dampfmaschinen und elektrische Motoren von insgesamt 300
PS. tätig, und hunderte von Arbeitern hatten in ihr lohnende
Beschäftigung gefunden.“
Bid 2:
Seilerwarenfabrik (heute nicht mehr vorhanden) und Villa
Dabei und bei allem, was noch zu berichten ist,
muss man jedoch immer im Gedächtnis behalten und
berücksichtigen, dass es sich bei August Gottlieb um einen
blinden Menschen handelte, um seine Leistung gebührend
würdigen zu können. "Wer ihn in den weitverzweigten
Räumen seiner Fabrik ohne die geringste Führung
umhergehen sah, würde kaum geglaubt haben, daß er es
mit einem vollkommen blinden Manne zu tun hatte." So war er
auch einer der ersten in Hersfeld und Umgebung, der ein Automobil
besaß. In ihm ließ er sich bei gutem Wetter zu einer
Quelle "In der Talkaute" fahren. Diese Quelle liegt
links der Straße zwischen Mecklar und Blankenheim und heißt
noch heute Gottliebbrunnen", was aber nur noch wenige wissen.
Gottliebs Fahrer war sein Schlosser Jean Walk. Erwin Walk
berichtet über die Fahrten seines Großvaters mit
Gottlieb eine kleine Anekdote. So seien die Straßen durch
die Ortschaften damals alles andere als autogerecht gewesen. Jede
Ausfahrt sei ein kleines Abenteuer mit ungewissem Ausgang gewesen
und es habe wiederholt unfreiwillige Stopps gegeben. „Oft
blieb auch der Motor stehen, wenn man sich gerade auf der Höhe
einer Dorfgaststätte befand. Der trockene Kommentar des
blinden August Gottlieb: "Gell! Roter Bursch! Jetzt hott
nicht der Motor, sondern der Fahrer Durst. Und man hielt zu dritt
(mit Gottliebs Ehefrau, Anm. d. Verfs.) Einkehr. ............... "
``Roter Bursch´´ wurde Jean Walk wegen seiner
politischen Aktivität für die Sozialdemokraten von
seinem Firmenchef gehänselt."
Bild 3: August
Gottlieb (auf dem hinteren Sitz) mit Gattin und Fahrer (Vermutlich
handelt es sich bei dem Fahrer um Adam Christian Franke, wie die Familie Franke
mitteilte, die das Foto zur Verfügung stellte. Bei dem Auto
handelt es sich außerdem um einen Elektrowagen.)
|
Will man nun wissen, was für ein Mensch
August Gottlieb war, so muss man sich hauptsächlich auf das
verlassen, was Wilhelm Neuhaus in seiner eingangs genannten
Schrift berichtet. Neuhaus hatte nämlich die Möglichkeit,
Menschen zu befragen, die Gottlieb noch persönlich gekannt
hatten. Diese Möglichkeiten haben wir natürlich heute
nicht mehr. So berichtet Wilhelm Neuhaus: „Seinen Arbeitern
war er ein gütiger Freund. Bei ihren materiellen Sorgen, in
Krankheits- und Unglücksfällen war er zur Stelle und
nicht nur mit dem kalten Gelde, sondern auch mit warmem Herzen.
Natürlich verlangte er, der selber, solange es ging, der
erste an der Spitze war, von ihnen fleißige und gute Arbeit,
und er konnte recht unangenehm werden, wenn ihm etwas wider den
Strich ging. Aber noch heute sind die Wenigen, die noch unter ihm
gedient haben, ohne Ausnahme voll des Lobes über ihren
gerechten, wohlwollenden, immer hülfsbereiten Herrn.“
Fast alle seine Arbeiter habe er persönlich gekannt. Die
meisten habe er an ihrer Stimme erkannt. Das Auslohnen der
Arbeiter habe er selbst besorgt. Er habe das Geld gezählt,
und es sei nicht bekannt geworden, dass er sich jemals dabei
geirrt habe. Wer nun war August Gottlieb privat und als Bürger
dieser Stadt? Sein häusliches Leben soll glücklich
gewesen sein. „Er verheiratete sich zur Zeit seiner
Fabrikgründung. Ein bescheidenes Haus hatte er sich neben der
Fabrik erbaut. Leider fehlte der Ehe der Kindersegen. Im
geselligen Verkehr trat der Mangel des Sehvermögens Gottliebs
in keiner Weise zu Tage. Er war ein ungewöhnlich guter
Gesellschafter, voll von Vorzügen des Geistes. Fast kein
Leben-s und Wissensgebiet war ihm fremd. Man staunte oft, wenn
sich zeigte, wie er überall zu Hause war. Über alles,
was den Tag bewegte, suchte er sich zu unterrichten; er ließ
sich gute Werke und die Tageszeitung vorlesen und pflegte
vielseitigen Umgang mit Personen, bei denen er Anregung und
Belehrung fand. Ein besonders hervortretender Zug seines Wesens
war ein glücklicher, nicht verletzender Humor, mit dem er
rasch die Herzen gewann. Wer auch nur vorübergehend mit ihm
in nähere Berührung kam, wurde durch seinen sprudelnden
Geist, den Scharfsinn seiner Bemerkungen und die Richtigkeit
seines Urteils gefesselt.“ Schließlich hatte August
Gottlieb auch viel Genuss und Freude an der Musik, der er von
Jugend an ergeben war, wie schon weiter oben erwähnt wurde.
So hat er Klavier, Harmoniun und Cello gespielt und soll es dabei
zu ganz respektablen Leistungen gebracht haben. Obwohl Gottlieb
von seinem Betrieb sehr in Anspruch genommen wurde, fand er
dennoch Zeit, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten
seiner Heimatstadt zu beschäftigen. Er wurde durch das
Vertrauen seiner Mitbürger in die städtischen
Körperschaften berufen und wirkte in ihnen segensreich. So
wird in der Schrift der Jutespinnerei berichtet. Leider ist es
auch in der Stadtverwaltung nicht mehr nachzuvollziehen, um welche
Ämter es sich dabei gehandelt hat. Gottlieb hat sich
jederzeit der Armen mit großer Opferwilligkeit angenommen.
Seine Verdienste um Hersfeld waren so hervorragend, dass nach
seinem Tode die Straße, in der sich seine Fabrik und das von
ihm erbaute Haus befanden, August-Gottlieb-Straße benannt
wurde. Ein Stück des unteren Teils dieses Straßenzugs
wurde nach 1965 dem Seilerweg zugeschlagen, nachdem ein weiterer
Teil der August-Gottlieb-Straße in das Gelände der
Firma Grenzebach (ehemals Babcock-BSH GmbH und davor Schilde)
einbezogen worden war. Gottliebs Haus steht noch heute am
Seilerweg 3 und befindet sich im Privatbesitz. Leider setzte eine
Krankheit, er war schwer zuckerkrank, dem Leben dieses
hervorragenden Mannes ein frühes Ende. August Gottlieb starb
am 13. Juni 1903 im Alter von 58 Jahren in Wiesbaden, wohin er zur
Kur gefahren war. An der Außenseite der Stadtmauer neben dem
Klausturm steht heute ein Gedenkstein mit Gottliebs Bildnis, der
ursprünglich an seiner Villa und dann auf dem Gelände
der Jutespinnerei an der Landecker Straße stand. Auf der
später hinzugefügten Schrifttafel heißt es:
„August Gottlieb geb. 18. 12. 1844 in Waldkappel - gest. am
13. 06. 1903 in Wiesbaden - In Hersfeld betrieb der in frühester
Jugend Erblindete eine Seilerei und entwickelte durch geniale
Erfindungen eine industrielle Produktion. Seine Frau Agnes, geb.
Vietor, setzte diesen Gedenkstein und stiftete das erworbene
Vermögen Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt.“
Tatsächlich waren Gottlieb und seine Frau große
Wohltäter, die sich der Armen in vorbildlicher Weise
annahmen. Auch nach Gottliebs Tod verging kaum ein Jahr, in dem
seine Witwe nicht erhebliche Geldbeträge für Arme
stiftete oder Mittel für öffentliche Anlagen zur
Verfügung stellte.
Was blieb? Gottliebs Seilerwarenfabrik
wurde in seinem Todesjahr in eine Aktiengesellschaft umgewandelt,
die sich in gedeihlicher Weise fortentwickelte. Die Firma nannte sich "August Gottlieb Mechanische Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft". Es gab zwei
Abteilungen: Abt. I: Seilerwarenfabrik, Abt. II: Jutespinnerei, Weberei und Sackfabrik. Stärker
entwickelte sich noch auf den Grundlagen, die August Gottlieb
geschaffen hatte, jedoch die Jutespinnerei und -weberei. Die neuen
Fabrikgebäude dafür wurden vor dem Peterstor in der
Landecker Straße in der Nähe des Bahnhofs errichtet, wo
August Gottlieb schon ab 1902 zu bauen begonnen hatte. Eine
Sacknäherei wurde 1906 an die Seilerei angeschlossen. 1914
fanden in diesen Betrieben 374 Menschen Arbeit und Brot und
verarbeiteten jährlich rund 2000 Tonnen Jute. Zwei Angebote an einen Kunden geben Auskunft über die die damaligen Produktpalette.
Bild 4 und 5: Angebot der Firma "August Gottlieb Mechanische Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft" vom 31. August 1914
Bild 6: Angebot der Firma "August Gottlieb Mechanische Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft" vom 11. Dezember 1914
Heute stehen an
der Stelle der alten Seilerei die Fertigungsanlagen des
Serienventilatorenherstellers TLT (Turbolufttechnik), eines
Tochterunternehmens der ehemaligen Babcock BSH AG, die wiederum
mehrheitlich Babcock Borsig in Oberhausen gehörte. Heute
gehört TLT dem Frankenthaler Maschinenbaukonzern Kühnle,
Kopp & Kausch. Zusammenfassend lässt sich aber
festhalten, dass August Gottlieb einer derjenigen war, welche die
Industrialisierung Hersfelds voranbrachten. Dies ist umso
erstaunlicher, dass er als Blinder einen großen Betrieb
errichtete und leitete. Dabei bewies er eine soziale Einstellung
und Spendenbereitschaft. Beides war Veranlassung für die
Stadt, eine Straße nach ihm zu benennen. Durch seine
volkstümliche Art war er bei den Menschen seiner Zeit
beliebt. Was hier über Gottlieb als Mensch und als Fabrikant
gesagt wurde, war der Grund dafür, ihm anlässlich seines
hundertsten Todestages ein ehrendes Andenken zu bewahren.
Bild 7: Inspektionsbericht
der Blinden-Anstalt Friedberg über ihren Schüler August
Gottlieb
|
Inspektionsbericht der Blinden-Anstalt Friedberg
über ihren Schüler August Gottlieb Nr. 85 (Abschrift)
Gottlieb August aus Hersfeld geb. zu Waldkappel; Kreis
Eschwege den 8 Decb. 1844, eingetreten den 1 Mai 1861 und
ordentlich entlassen den 31 Okt. 1862. Erblindet in seinem 4
Lebensjahr am Scharlach. War 6 Jahre in der Blinden-Anstalt zu
Soest in Westfalen und hat etwas tüchtiges gelernt. Spielte
sehr gut Clavier und war auch sonst in vielen sonstigen
Schulgegenständen gut unterrichtet. Er war nur hier um die
Seilerei gründlich zu erlernen, was auch gelang. Er arbeitet
nun zu Hause mit bestem Erfolg. Seit längerer Zeit
beschäftigt er als Gesellen Nr. 65 mit dem er übrigens
nach seiner mündlichen Mitteilung nicht sehr zufrieden ist,
wegen dessen Unzufriedenheit und Rechthaberei. Ja schriftlich
Beziehung hat er mehr im Kopfe als im Herzen, was sein Weltsinn
beweiß, sonß bürgerlich sehr brav und überaus
fleißig. 1862 Schrieb uns am 26 Jan. und wollte Auskunft
über Hanf. Nach seinem Schreiben geht es ihm gut. War zur
Jahresfeier am 12 Okt. etliche Tage hier in sehr heiterer
Sti~mung. Wünschte ihm etwas. ?????. --- Aber. ------ 1865
Mai den 26 in Hersfeld besucht, ging ihm wie immer und war auch
noch ganz der alte. 1866 Im Mai habe ich ihn in Hersfeld besucht,
geht ihm sehr gut. 1867. War Anfang Januar hier zu Besuch. den 3
Juni hier zu Besuch. Bat mich beim Vorschuß-Verein für
500 Thl. für ihn gut zu sprechen, weil er Geld zu einer
überbauten Seilerbahn bedürfe. Ich sagte ihm, dass
solches nicht anginge, weil sich zwei Mann verbürgen müssten
und er als Seiler selbst Mitglied des Vereins sein müsse. Zog
also unverrichteter Sache ab. 1869. den 26 Juni besucht. Betreibt
die Seilerei mit 4 Arbeiter. Ist geschäftlich sehr großartig
eingerichtet. Bei der Gewerbeausstellung zu Leipzig ist ihm der
zweite Preis, die silberne Medaille, für seine Seilerwaren zu
Theil geworden. 1872. Im Mai besucht. Hat sich verheiratet und
geht ihm überaus gut. Er hatte im Winter 8, jetzt noch 5
Arbeiter. Hat sein selbst erbautes Haus durch einen Umbau
vergrößert. 1878. Erfuhr heute den 2 Nov., dass August
einen kolosalen Bankrott gemacht habe. Wer hoch steigt, fällt
tief. Hat jedenfalls seine Kräfte überschätzt.
Schade drum! – 1882. Sah ihn im Juli beim Sängerfest in
Frankfurt. 1884. Heute aus zuverlässiger Quelle, dass er alle
seine Gläubiger vollständig befriedigt habe. 1885. Uns
mit Frau besucht. 1887. den 22 Sept. besucht; er hat 18 Arbeiter
und liefert jährlich 7 bis 10,000 Zentner Kordel aller Art.
Ist eine Fabrik, wie ich sie nie gesehen. 1890. Besucht den 19
Juni. Siehe Bericht. 1893 „ 19 Juni. „ „ +. 13
Juni 1903
Eine kleine Firmengeschichte
1863 Gründung einer Seilerei durch August Gottlieb. Produktion von
Bindfäden, Leitseilen, Zugsträngen, geflochtenen
Traggurten, Tauen u. s. w.
1867 Errichtung der 300 m langen und
10 m breiten Seilerbahn am „Roten Graben“ (heute
Seilerweg) mit insgesamt vier Arbeitern
1871 Es gibt insgesamt
erst acht Beschäftigte, da eine der Hauptinteressen Gottliebs
dahin geht, die Handarbeit durch Maschinenarbeit zu ersetzen. Zu
diesem Zweck erfolgt eine sehr enge Zusammenarbeit mit Benno
Schilde, der Ideen von Gottlieb realisiert und z. T. völlig
neue Maschinen für ihn baut. Auch für sonstige
Neuerungen ist er sehr aufgeschlossen, wodurch die Firma als erste
in Bad Hersfeld über eine eigene Lichtanlage sowie über
Elektroautos verfügt.
1877 Die Firma gerät in
finanzielle Schwierigkeiten und geht in Konkurs. Es gelingt
Gottlieb jedoch, diese Schwierigkeiten zu beheben und die
Gläubiger hundertprozentig zu befriedigen.
1887 18
Beschäftigte
1890 30 Beschäftigte
1893 42
Beschäftigte
1903 98 Beschäftigte. Nach dem Tode wird
die Firma, da keine Erben vorhanden sind, in eine
Aktiengesellschaft umgewandelt und wechselt dann mehrfach den
Besitzer. Zeitweilig befinden sich die Aktien sogar in englischem
Besitz.
1905-07 Eine Jutespinnerei und –weberei mit einer
dazugehörigen Sacknäherei wird auf dem heutigen Gelände
an der Landecker Straße errichtet. Während des 1.
Weltkrieges kam eine Hanfspinnerei hinzu. In den zwanziger Jahren
wird die Firma von dem sogen. Blumensteinkonzern übernommen
und wurde damit Zweigwerk der Vereinigten Jutespinnereien und
-webereien AG mit Sitz in Hamburg.
1938 Die alte Seilerei
brennt fast vollständig ab.
1959-62 Aufbau einer modernen
Chemiefaserspinnerei.
1962 Die Besitzer, die Ralli Brothers,
verkaufen die Aktien an die Dresdener Bank. Übernahme der
Teppichproduktion von Hamburg-Harburg nach Bad Hersfeld und Aufbau
einer Teppichbodenabteilung
1963 Erwerb der rechten Hälfte
der Braun’schen Fabrik
1965 Dynamit Nobel übernimmt
die Aktien. Neubau der Lager- und Versandhalle. In diesem Jahr
wird die Teppichbodenproduktion zum Hauptleistungsträger des
Werkes. Die alten Fertigungen wurden bzw. werden eingestellt, um
den ständig größer werdenden Platzbedarf der
Teppichbodenabteilung befriedigen zu können
Ende 1984
Dynamit Nobel schließt die Firma. Die Stadt Bad Hersfeld
kauft das Gelände und verkauft es weiter an Interessenten.
Quellen
1. Dem Gedächtnis des
Gründers unseres Werkes Hersfeld, anlässlich der
Wiederkehr seines 80. Geburtstages gewidmet, Vereinigte
Jute-Spinnereien und Webereien Aktien-Ges., Hamburg,
Zweigniederlassung Hersfeld, vormals August Gottlieb, Spinnerei,
Weberei und Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft von Wilhelm
Neuhaus: August Gottlieb, Ein Bild seines Lebens und Wirkens,
Gedruckt in der Hoehlschen Buchdruckerei in Hersfeld, 1924
2. Festschrift anlässlich der 700-Jahrfeier der Gemeinde Mecklar
am 13. und 14. September 1952, herausgeben von der Gemeinde
Mecklar
3. Inspektionsbericht der Blinden-Anstalt
Friedberg über ihren Schüler August Gottlieb
4.
Kulturdenkmäler in Hessen, Landkreis Hersfeld-Rotenburg III,
Stadt Bad Hersfeld, Herausgegeben vom Landesamt für
Denkmalpflege Hessen, Thomas Wiegand
5. Leben und
Wirken des Fabrikanten August Gottlieb in Hersfeld, Unseren
erblindeten Kriegern gewidmet, herausgegeben von der
Aktien=Gesellschaft August Gottlieb, Jutespinnerei, Weberei und
Seilerwarenfabrik zu Bad Hersfeld, Hoehlsche Buchdruckerei, Inh.
K. Bächstädt, Hersfeld
6. Mann, Emma: Benno
Schildes Leben und Werk, Persönliche Erinnerungen an meinen
Vater zur 25. Wiederkehr seines Todestages (23. Oktober 1911) in
Mein Heimatland, Zeitschrift für Geschichts-, Volks- und
Heimatkunde, Illustrierte Beilage zur Hersfelder
Zeitung/Hessischer Bote – Druck und Verlag: Hoehlsche
Buchdruckerei, Oktober 1936, 12. Band
7. Neuhaus,
Wilhelm: Geschichte von Hersfeld, Von den Anfängen bis zur
Gegenwart, 2. Auflage, Hans Ott=Verlag, Bad Hersfeld
8.
Tuch und Leder, Bier und Maschinen, Hersfelder Industriebetriebe
zwischen Gründerzeit und Zweitem Weltkrieg, Ein architektur-
und wirtschaftsgeschichtlicher Spaziergang anlässlich des
Tages des offenen Denkmals in Bad Hersfeld am 13. September 1998,
Thomas Wiegand 1998
9. v. Stingl, A.: Ein vergessener
Gedenkstein, Mein Heimatland, Bd. 30, 1982
10. Walk,
Erwin: Industrialisierung in Hersfeld aktiv erlebt, in Bad
Hersfelder Jahresheft 1994 Ott Verlag GmbH . Bad Hersfeld
Bildnachweis
Bild 1: aus „Leben und Wirken des Fabrikanten August Gottlieb in Hersfeld, Unseren
erblindeten Kriegern gewidmet, herausgegeben von der
Aktien=Gesellschaft August Gottlieb, Jutespinnerei, Weberei und
Seilerwarenfabrik zu Bad Hersfeld, Hoehlsche Buchdruckerei, Inh.
K. Bächstädt, Hersfeld“, S. 3
Bild 2: ebenda, S. 8
Bild 3: von Familie Franke zur Verfügung gestellt; jetzt im Stadtarchiv
Bilder 4 bis 6: Schriftstücke aus einem Aktenkonvolut, der auf einem Flohmarkt erworben wurde
Bild 7: Kopie aus dem Inspektionsbericht der Blinden-Anstalt Friedberg über ihren Schüler August Gottlieb
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